Familie Joseph Hayum in Kirchlinde

Die Familie Hayum lebte nachweislich seit 1898 im Haus Heckelbeckstraße 1 in Kirchlinde. Die Familie bestand aus dem Kaufmann Joseph Hayum, geboren am 6. November 1863 in Trier-Coenen (Könen), seiner Ehefrau Flora Hayum geb. Sternberg, geboren am 10. Januar 1865 in Westerburg (Oberwesterwaldkreis), deren fünf leiblichen Kindern und einem Pflegesohn.

Die Ehe von Joseph und Flora Hayum wurde am 22. August 1892 in Westerburg geschlossen. Die Tochter Ella wurde am 3. September 1894 in Merzig-Brotdorf (Saarland) geboren, die zweite Tochter Rosa ebenfalls dort am 11. Juli 1896. Am 23. Januar 1898 wurde Sohn Julius in Kirchlinde geboren, am 9. Dezember 1900 folgte Johanna und am 29. Januar 1905 kam Isidor ebenfalls in Kirchlinde zur Welt. Neben den fünf leiblichen Kindern lebte auch der Pflegesohn Julius Sternberg, geboren am 12. März 1907 in Kirchlinde, in der Familie. Die leibliche Mutter von Julius Sternberg war Johanna Sternberg, die Schwester von Flora Hayum. Warum Johanna Sternberg ihren Sohn nach der Geburt im katholischen Krankenhaus in Kirchlinde ihrer Schwester übergeben hat, wissen wir nicht und auch über das weitere Schicksal von Johanna Sternberg ist uns nichts bekannt.

Bildnachweis: Isidor Hayum (State Archives, Brüssel, KD_00017_XXIII – 0215 – HAYUM Isidore)
Schulfoto mit Hannelore Daniel rechts unten (privat).
Joseph Hayum mit Nichte Martha de Vries und ihren Kindern (privat)

Joseph Hayum betrieb im Erdgeschoss des Hauses Heckelbeckstraße 1 ein Manufaktur- und Kolonialwarengeschäft. Werbeanzeigen aus der Zeit zeigen ein buntes Sortiment an Artikeln wie zum Beispiel Lacke und Farben, Kautabak und auch Lebensmittel. Zeitzeugen aus der Heckelbeckstraße beschrieben die Familie als sehr beliebt und sozial engagiert. Bei Joseph Hayum gab es für seine Kunden immer die Möglichkeit, bei finanziellen Engpässen Waren anschreiben zu lassen; das „Anschreibebuch“ lag unter der Theke.

Es ist uns nicht bekannt, ob die Geschäfte von Joseph Hayum und seines Sohnes Julius während der Geschäftsboykotte im Mai 1933 boykottiert wurden. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Geschäft in der Heckelbeckstraße 1 nicht geplündert und zerstört, da der Ortsgruppenleiter der NSDAP, der Lehrer Bobeth, sich schützend vor das Haus gestellt hat und der SA verbot, dieses Haus zu stürmen. Dennoch konnte die Auflösung des Geschäftes durch die SA in den folgenden Tagen nicht verhindert werden. Zeitzeuginnen berichteten, dass die SA Lastwagen voll mit Waren und Möbeln aus dem Geschäft abtransportiert hat. Ab diesem Zeitpunkt musste Joseph Hayum – inzwischen 75 Jahre alt – den Unterhalt seiner Familie als Tagelöhner auf dem Bau in Castrop-Rauxel verdienen.

Das langjährige Heim der Familie Hayum diente ab diesem Zeitpunkt als „Judenhaus“. Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden in die Heckelbeckstraße 1 eingewiesen und mussten auf ihre Deportation warten. So waren Jenny und Moritz Nußbaum von Anfang 1942 bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt am 29. Juli 1942 in der Heckelbeckstraße 1 gemeldet. Am 29. Juli 1942 wurden Joseph Hayum zusammen mit der Familie Daniel sowie mit dem Ehepaar Nußbaum mit dem Transport X/1 von Dortmund nach Theresienstadt deportiert. Seine Ehefrau Flora war bereits am 13. Oktober 1940 im Alter von 75 Jahren an Herzversagen gestorben.

Noch vor dem Transport, am 5. Februar 1942, fand die offizielle „Entjudung des Grundbesitzes Heckelbeckstraße 1“ statt. Joseph Hayum musste an den Bauunternehmer Theodor Vieth den Grundbesitz Heckelbeckstraße 1, frei von Hypotheken und Grundschulden, für 14.000 RM verkaufen.

Joseph Hayum wurde im Mai 1945 im Alter von fast 82 Jahren in Theresienstadt befreit. Er kehrte nach Dortmund zurück. Zunächst lebte er bis 1946 in einem Altersheim in Dortmund-Sölde, ab 1946 bis zu seinem Tode 1951 dann bei seiner Nichte Martha de Vries in Recklinghausen und war für ihre Kinder ein liebevoller Ersatzopa. Er kämpfte bis 1949 um eine Entschädigung beim Wiedergutmachungsamt des Landgerichtes Dortmund. Mit 86 Jahren fühlte er sich aber nicht mehr in der Lage, sich selbst für eine Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts einzusetzen und übergab die Angelegenheit der jüdischen Gemeinde Dortmund. Am 16. Januar 1950 bekam er auf Grund des Beschlusses des Wiedergutmachungsamtes beim Landgericht Dortmunds sein Haus in der Heckelbeckstraße 1 zurück.

Joseph Hayum starb am 17. April 1951 und wurde auf dem Friedhof in Dortmund-Dorstfeld an der Seite seiner Frau beigesetzt.

Martha de Vries erbte das Haus Heckelbeckstraße 1 und verkaufte es 1957 der Familie Kernchen in Chicago (Illinois, USA). Sie forderte ferner bei der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Dortmund Entschädigungen ein und konnte schließlich in der Rückerstattungssache Erben Joseph Hayum ./. Deutsches Reich am 26. April 1962 einen Vergleich schließen, wonach „der Antragsgegner (Deutsches Reich) an die Antragstellerin (Martha de Vries) nach Maßgabe des Bundesrückerstattungsgesetzes […] in den Jahren 1939 ff erfolgten Entziehung eines Textilwarenlagers und einer Geschäftseinrichtung sowie einer Wohnungseinrichtung mit Hausrat, Wäsche, Bekleidung des Kaufmanns Joseph Hayums […] und seines Sohnes Julius und seiner Tochter Johanna insgesamt 12.000 DM zahlt. Damit ist dieses Verfahren erledigt“.

1. Familie Heinrich Daniel
Die älteste Tochter von Joseph und Flora Hayum, Ella, war verheiratet mit Heinrich Daniel, geboren am 20. August 1888 in Koblenz. Sie hatten eine Tochter Hannelore Daniel, geboren am 11. Mai 1928 in Haltern. Die Familie wohnte im Haus Rekumerstraße 5 in Haltern. Dort führten sie ein bekanntes Bekleidungsgeschäft mit hochwertigem Sortiment. Hannelore besuchte die katholische Grundschule. Nach Aussagen von Alexander Lebenstein, dessen Mutter Hannelores Amme war, war sie leicht gehbehindert und kognitiv eingeschränkt.

Im Zuge der Pogromnacht wurde das Geschäft der Familie Daniel völlig zerstört. Karla Uthe berichtete, dass das gesamte Inventar und Mobiliar aus dem Fenster geworfen und auch die dahinterliegende Synagoge, die von Heinrich Daniel verwaltet wurde, zerstört wurde. Nach der Pogromnacht versteckte sich die Familie noch kurze Zeit bei Nachbarn und zog dann nach Dortmund-Kirchlinde in die Heckelbeckstraße 1. Dort sind sie nachweislich ab 27. Juli 1939 gemeldet.

 

Hannelore besuchte die jüdische Schule in der II. Kampstraße in der Dortmunder Innenstadt. Den Weg dorthin durfte sie nur auf der äußeren Plattform der Straßenbahn zurücklegen, da es Juden untersagt war, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Von dem Zeitzeugen Gerhard Rapior, der die gleiche Straßenbahn auf dem Weg zu seiner Schule nutzte, wurde berichtet, dass Hannelore „völlig verschüchtert war, ärmlich gekleidet und ausgehungert“, sodass er ihr des Öfteren seine Butterbrote gab.

 

Die Familie Daniel wurde am 9. Oktober 1944 mit dem Transport Ep nach Auschwitz weitertransportiert und ermordet. Ihre Nummern auf der Deportationsliste waren 860 (Heinrich Daniel), 861 (Ella Daniel) und 862 (Hannelore Daniel). Da sie nicht in Auschwitz registriert wurden, gehen wir davon aus, dass sie dort sofort ermordet worden sind.

2. Rosa Hayum

Die zweite Tochter von Joseph und Flora Hayum, Rosa, blieb unverheiratet und lebte bis 1942 im elterlichen Haus in der Heckelbeckstraße 1. Sie wurde am 27. April 1942 von Dortmund nach Zamosc (Polen) deportiert. Aus diesem Transport sind keine Überlebenden bekannt. Nach jetzigem Kenntnisstand wurde Rosa Hayum entweder in Zamosc sofort ermordet oder in das Vernichtungslager Sobibor weiterdeportiert und dort ermordet.

3. Julius und Hulda Jenny Hayum

Die zuletzt Deportierten aus Dortmund sind Julius Hayum und seine Ehefrau Hulda Jenny Hayum, geb. Salm. Ihre Ehe wurde am 8. August 1930 geschlossen.

 

Wie sein Vater war Julius Hayum Kaufmann und betrieb mit seiner Frau Hulda Jenny Hayum unweit des elterlichen Betriebes ein eigenes Manufaktur- und Kolonialwarengeschäft mit einem großen Handarbeitssortiment. Das Geschäft befand sich in der Bahnhofstraße, heute Bärenbruchstr. 140. Eine Zeitzeugin berichtete, dass Hulda Jenny, die selbst keine Kinder hatte, die Kinder immer liebevoll behandelte und ihnen gelegentlich Bonbons aus ihrer Kittelschürze schenkte.

 

Im Zuge der Verhaftungswelle nach der Pogromnacht 1938 wurde Julius verhaftet und saß vom 12. November 1938 bis 1. Dezember 1938 im Gestapo-Gefängnis Steinwache ein. Das gemeinsame Geschäft wurde am 18. Januar 1939 im Zuge der Arisierung eingestellt. Auf Anordnung des Oberfinanzpräsidenten Westfalen (Devisenstelle, Überwachungsabteilung) in Münster vom 20. Januar 1940 informiert Julius Hayum den Juristen Dr. jur. Paul Blinzler, dass jegliche Zahlungen an ihn nur noch auf seinem beschränkt verfügbaren Sicherungskonto bei der Stadtsparkasse Dortmund entgegengenommen werden dürfen und dass Barzahlungen zu seinen Gunsten nicht mehr zulässig sind. Die Devisenstelle hat ihn darauf hingewiesen, dass Zuwiderhandlungen bestraft werden. Wie Julius und seine Frau Hulda Jenny bis zur Deportation Anfang März 1943 überhaupt überleben konnten, ist uns nicht bekannt.

 

In einem Brief an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Dortmund vom 3. Dezember 1949 hat Joseph Hayum angegeben, dass sein Sohn Julius mit Frau Hulda Jenny Anfang März 1943 nach Auschwitz „verschickt wurden“. Aus einer uns vorliegenden Postkarte informiert Julius seinen Vater Joseph Hayum in Theresienstadt am 1. März 1943 über die bevorstehende Deportation „in die Ferne“. Am 2. März 1943 ging ein Transport von Dortmund nach Auschwitz. Beide wurden mit Wirkung vom 8. Mai 1945 für tot erklärt.

4. Johanna Hayum

Die jüngste Tochter von Joseph und Flora Hayum, Johanna, war mit dem jüdischen Lehrer Sally Rosenberg, geboren am 2. Juni 1893 in Langenschwalbach, verheiratet. Das Ehepaar wohnte bei ihren Eltern in der Heckelbeckstraße 1. 1934 wurde die Ehe geschieden. In der Folgezeit verließ Johanna mehrfach das Elternhaus, kehrte aber einige Male zurück. Ihr letzter bekannter inländischer Wohnsitz war Köln, Dasselstraße 63, von dort wurde sie am 22. Oktober 1941 mit dem ersten Kölner Transport nach Litzmannstadt (Lodz, Polen) und anschließend in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmo, Polen) deportiert und am 5. Mai 1942 ermordet.

 

In Haltern am See wurden vor dem Haus Rekumerstraße 5 drei Stolpersteine für die Familie Daniel verlegt. Auch vor dem Haus der Heckelbeckstraße 1, der letzten Meldeadresse der Familie Daniel, liegen Stolpersteine für sie.

5. Isidor Hayum

Im Zuge der Pogromnacht 1938 kam der jüngste Sohn, Isidor Hayum, am 15. November 1938 ins Konzentrationslager Dachau. Von dort wurde er am 10. Januar 1939 entlassen. Zwei Monate später setzte er sich nach Belgien ab. Sein letzter bekannter inländischer Wohnort war Siegburg.


In Belgien wurde er verhaftet und in das Sammellager Mechelen gebracht. Von dort aus wurde er am 15. Januar 1944 nach Auschwitz deportiert. Er starb am 12. April 1944 in Auschwitz Monowitz in der Krankenbaracke an „Herzversagen“. Seine Häftlingsnummer war 172330.

6. Julius Sternberg

Der Pflegesohn Julius Sternberg emigrierte bereits 1934 nach Belgien und überlebte im Untergrund. 1947 wanderte er in die USA aus und starb am 18. März 1998 in Woodmere/New York. Ob er zu diesem Zeitpunkt wieder Kontakt zu seinem Pflegevater Joseph Hayum hatte, ist uns nicht bekannt. Sicher ist, dass Julius Sternberg Anfang der 1960er dafür gesorgt hat, dass seine Pflegeeltern bzw. sein Onkel und seine Tante – Joseph und Flora Hayum – einen gemeinsamen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Dorstfeld erhielten. 1979 besuchte Julius Sternberg auf Einladung der Stadt Dortmund abermals seine ehemalige Heimatstadt.

Theresia Hanau – Mutter von Joseph Hayum

Nahe der Grabstätte von Joseph und Flora Hayum auf dem jüdischen Friedhof in Dorstfeld befindet sich das Grab von Theresia Hanau geb. Levy. Sie war die Mutter von Joseph Hayum, ihrem erstgeborenen Kind aus ihrer Ehe mit Joseph Hayum (1827-1863). In zweiter Ehe war sie mit Isaak Hanau verheiratet gewesen.

Wiebke Menke, Elke Podany und Heinz Höne
(Droste-Hülshoff-Realschule)
01.07.2022